DONNERSTAG, 13.55 UHR

Sören Henning und Lisa Santos hatten sich gut zwei Stunden in dem Restaurant aufgehalten, sie hatten nach dem Essen über Albertz und Sarah Schumann gesprochen, über den Anruf von Professor Jürgens und all die offenen Fragen, die mit ihrem Fall, der streng genommen gar nicht mehr ihr Fall war, zusammenhingen. Sie hatten vergeblich versucht, Verbindungen herzustellen. Lisa Santos ging es wieder besser, sie hatte gut gegessen, das kurzzeitige Tief war überwunden. Um halb zwei hatten sie das Restaurant verlassen und waren in die Bismarckallee gefahren und parkten an einer Stelle, von der aus sie sämtliche Häuser rings um den Kreisel gut im Blick hatten. Sie suchten sich eine Stelle, von der aus sie die Einfahrt und das Tor beobachten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Sie beschlossen jedoch schon nach wenigen Minuten, mit der Observierung noch nicht zu beginnen, er würde ohnehin noch nicht zu Hause sein, sondern erst noch einmal ins Präsidium zu fahren und mit Harms zu sprechen.

Harms war nicht in seinem Büro, und keiner konnte ihnen sagen, wo er sich aufhielt. Da sein Schreibtisch aufgeräumt und das Fenster geschlossen war, vermuteten Henning und Santos, dass er sich in der Klinik bei seiner todkranken Frau befand und heute auch nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde. Sie wollten ihn auch nicht anrufen, er hatte wahrlich andere Sorgen als seine Arbeit. »Wir schaffen es auch ohne ihn«, sagte Santos. »Da dachten wir, er hätte sich verändert, dabei muss er sich auf den Tod seiner Frau vorbereiten. Ich stelle mir das entsetzlich vor.«

»Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, solche Sachen machen mir Angst.«

»Hast du Angst vor dem Tod? Darüber haben wir noch nie gesprochen.«

»Ich weiß es nicht. Nicht vor dem Tod, eher vor dem Sterben. Ich will nicht dahinsiechen, es soll schnell gehen. Ach Scheiße, lass uns über was anderes reden. Ich bin heute sowieso mit den Nerven am Ende.« »Vorhin war ich es, jetzt bist es du ...« »Ist schon wieder vorbei. Wir sind doch beide stark, oder?« »Sind wir. Was hältst du davon: Wir arbeiten noch bis zum Wochenende an dem Fall, wenn wir dann immer noch auf der Stelle treten, ziehen wir uns zurück. Okay?«

»Der Vorschlag hätte von mir stammen können. Aber seit Volker uns von seiner Frau erzählt hat, ist in mir irgendwas passiert. Es hat mich umgehauen.« »Mich doch auch. Lass uns nun unseren Job machen und alles andere ausblenden. Wann fahren wir wieder nach Düsternbrook?«

»Vier, halb fünf, vorher wird Albertz wohl kaum nach Hause kommen.«

»Dann lass uns vorher noch einen Abstecher zu Klaus machen«, schlug Santos vor.

»Er wird nicht mit uns reden wollen.«

»Vielleicht ja doch. Komm, einen Versuch ist es allemal wert.«

»Na ja, hier haben wir sowieso nichts zu tun, und die Akten erledigen wir ab nächster Woche.«

 

Jürgens war allein im Sektionssaal und obduzierte eine jugendliche männliche Leiche. Er hob nur kurz den Kopf, als er Henning und Santos erblickte, und wandte sich wieder dem Toten zu, dessen Torso geöffnet war, die Organe waren zum größten Teil entnommen worden und lagen in mehreren Schüsseln, das Gewicht von Lunge, Leber, Herz, Nieren und Gehirn hatte Jürgens auf einer Tafel vermerkt.

»Was wollt ihr?«, fragte er, ohne den Blick zu heben. »Nichts weiter, nur einen freundschaftlichen Besuch abstatten«, sagte Santos und stellte sich neben Jürgens. »Sind wir ungestört?«

»Seit ihr da seid, nicht mehr. Der hier quatscht mich jedenfalls nicht voll.«

»Ist das Freier?«, wollte Henning wissen. »Und wenn?«

»Jetzt sei doch nicht so gereizt«, sagte Santos. »Du hast doch gar keinen Grund dazu.«

Jürgens legte seine Instrumente beiseite und wandte sich ihnen endlich zu.

»Das denkt ihr, aber ihr liegt falsch. Ich hatte vorhin wieder einen nicht besonders netten Anruf vom Verfassungsschutz, einer von den Typen, die mich hier schon mal aufgesucht haben. Ergebnisse ausschließlich an sie.« »Wer sind die Typen? Kennst du sie?«

Jürgens senkte den Blick und nickte kaum merklich. »Ja. Die Schweinebacken arbeiten für zwei Seiten, zum einen für das LKA, zum anderen für den VS. Ich habe keinen Bock, mich mit denen anzulegen.« »Friedmann und Müller«, konstatierte Santos. »Woher wisst ihr ...«

»Wir wissen viel mehr, als du glaubst. Die beiden sind gefährlich, aber uns kannst du bedingungslos vertrauen, alles, was du uns sagst, bleibt bei uns. Heiliges Ehrenwort. Hast du bei Freier irgendwas rausgefunden?« »Bis jetzt nicht, ich kann nur Vermutungen anstellen. Er ist einem Herzinfarkt erlegen, aber ich glaube, da wurde nachgeholfen. Möglicherweise wurde ein Gift benutzt, das schon nach sehr kurzer Zeit nicht mehr nachweisbar ist. Eine andere Erklärung habe ich noch nicht gefunden.«

»Gibt es Einstichstellen?«, fragte Henning. »Nein, ich habe jeden Millimeter mit der Lupe abgesucht, keine Einstiche. Das lässt die Vermutung zu, dass er das Gift entweder oral oder durch Berührung aufgenommen hat. Ich gehe ganz stark davon aus, dass es sich um ein Kontaktgift handelt. Da gibt es mittlerweile sehr viele, auch chemische. Früher hätte man ein tierisches Gift verwendet, doch manche chemischen bauen sich sehr schnell ab und machen eine Bestimmung fast unmöglich. Ich schätze, darauf wird es auch bei Freier hinauslaufen, am Ende wird die Diagnose Herzinfarkt lauten, obwohl er vergiftet wurde.«

»Was für ein Typ war er? Du hast gesagt, du kanntest ihn persönlich«, sagte Henning.

»Lass es mich so ausdrücken: nach außen hin nett und freundlich, aber wenn du mehr mit ihm zu tun hattest, merktest du schnell, dass er ein eiskalter Hund war. Das war jedenfalls mein Eindruck von ihm. Das heißt aber nicht, dass ich mit ihm nicht ausgekommen wäre.«

»Sag mal, ist das nicht ungewöhnlich, dass Leute vom VS zu dir kommen?«, wollte Santos wissen.

»Ich fand's auch befremdlich, aber ich konnte ihn ja schlecht rausschmeißen.«

»Bei was für Fällen war er hier?«

»Unfallopfer, ein Mordopfer und zwei Suizide, bei denen ich meine Zweifel hatte, ob es sich wirklich um Selbstmord handelte. Zweimal ging es auch um eigentlich natürliche Todesfälle, die er verifiziert haben wollte. Was mich damals schon irritierte, war seine Aufforderung, mit niemandem über die Ergebnisse zu sprechen. Ich sage euch, das war keine Bitte, sondern ein Befehl.« »Hast du noch die Unterlagen der Fälle?« »Lisa, nimm's mir nicht übel, aber dafür fehlt mir jetzt wirklich die Zeit. Weißt du eigentlich, wie viele Obduktionen ich pro Woche durchführe? Das letzte Mal ist er etwa vor einem Dreivierteljahr hier gewesen ... Irgendwann, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist, vielleicht, aber ganz bestimmt nicht jetzt. Die vom VS wollen schnellstmöglich Ergebnisse haben. Ich habe keine Lust, mich mit denen anzulegen, das könnt ihr bestimmt verstehen. So, jetzt lasst mich bitte allein.«

»Nur noch eins: Du hast vorhin am Telefon gesagt, dass du die DNA gefunden hast.«

»Ja, und das macht es für mich definitiv zu einem Mord. Bruhns, Steinbauer, Klein und jetzt Freier, alles dieselbe Handschrift. Euer Täter hat sich nicht auf eine Tötungsart spezialisiert, ich würde fast behaupten, er beherrscht alle Formen des kunstvollen Tötens.« »Kunstvoll?«, stieß Santos entsetzt hervor. »Ja, kunstvoll«, entgegnete Jürgens ungerührt. »Gut, nehmen wir Klein mal raus, dann bleiben immer noch Bruhns, Steinbauer und Freier. Er ist auf seinem Gebiet ein Künstler, der sein Handwerk aus dem Effeff beherrscht. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet.« »Klar. Danke, dass du überhaupt mit uns gesprochen hast.«

»Gern geschehen.«

 

Auf dem Weg zu ihrem Wagen sagte Santos mit nachdenklicher Miene: »Warum lichtet jemand die Reihen des VS oder bringt Leute um, die für den VS tätig waren? Was ist sein Motiv?«

»Lisa, darüber zerbrechen wir uns doch schon die ganze Zeit den Kopf. WIR WISSEN ES NICHT! Vielleicht erfahren wir ja von Albertz mehr, wenn wir ihn mal so richtig durch die Mangel drehen.«

»Dann auf zu ihm. Aber wir lassen die Standheizung laufen, ich habe keine Lust, mir den Hintern abzufrieren. Scheißwetter! Können wir nicht noch wenigstens eine Stunde warten? Wir haben gerade mal kurz vor halb drei.« »Klar doch.«

 

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